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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 26.04.2002
Aktenzeichen: 4 Ss 71/2002
Rechtsgebiete: StVO
Vorschriften:
StVO § 35 Abs. 1 | |
StVO § 35 Abs. 8 |
Oberlandesgericht Stuttgart - 4. Senat für Bußgeldsachen - Beschluss
Geschäftsnummer: 4 Ss 71/2002 33 Js 17746/01 StA Tübingen
vom 26. April 2002
in der Bußgeldsache gegen
M. B.
wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
Tenor:
Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts Reutlingen vom 06. Dezember 2001 wird als unbegründet
verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen vom Vorwurf der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit freigesprochen.
Es hat festgestellt, dass der Betroffene am 09. April 2001 um 20.33 Uhr in auf der Straße als Führer des Pkw der Marke mit dem amtlichen Kennzeichen, auf dessen Fahrzeugdach er vorübergehend einen Kunststoffaufsatz mit der Aufschrift "Feuerwehr im Einsatz" angebracht habe, die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h überschritten habe. Seine gemessene Geschwindigkeit habe abzüglich der Toleranz 78 km/h betragen.
Der Betroffene sei aktives Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr der Stadt welche nur wenige Kilometer entfernt und städtebaulich unmittelbar angrenzend an die Nachbarstadt liege. Um 20.28 Uhr sei er über Funk im Rahmen eines Vollalarms wegen einer Brandmeldung im Gebäude der Firma in einem Verbrauchergroßmarkt, alarmiert worden. Er habe, wie ihm geheißen, auf dem schnellsten Wege das Feuerwehrhaus der Freiwilligen Feuerwehr in erreichen wollen, um von dort aus eingesetzt zu werden. Um 20.39 Uhr habe sich herausgestellt, dass es sich um einen Fehlalarm gehandelt habe. Andere Verkehrsteilnehmer seien durch die Fahrweise des Betroffenen auf der ausgebauten Ausfall- bzw. Durchgangsstraße, die der überörtlichen Verbindung zwischen den Ortsteilen und diene und welche zudem die Bundesstraßen und miteinander verknüpfe, in keiner Weise tangiert worden.
Dem Betroffenen sei auf Schulungen der Feuerwehr wiederholt - u.a. auch anhand von schriftlichen Unterlagen des Verkehrsdienstes der Polizeidirektion - erklärt worden, er könne im Alarmfalle gegebenenfalls für sich Sonderrechte in Anspruch nehmen, wenn er niemanden hierdurch gefährde.
Gegen dieses freisprechende Urteil richtet sich die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft, der sich die Generalstaatsanwaltschaft angeschlossen hat. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrem Rechtsmittel, das sich nicht gegen die getroffenen Feststellungen wendet, sondern lediglich eine Aufhebung und Zurückverweisung im Rechtsfolgenausspruch begehrt, eine grundsätzliche Klärung der Rechtsfrage, ob einem Angehörigen der Freiwilligen Feuerwehr im Alarmfall bei der Fahrt in seinem Privatfahrzeug zum Feuerwehrstützpunkt die Sonderrechte des § 35 Abs. 1 StVO zustehen. Hierin ist die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts zu sehen.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist nicht begründet, da das Amtsgericht den Betroffenen im Ergebnis zu Recht freigesprochen hat.
1. Dem Betroffenen, der als Angehöriger einer Freiwilligen Feuerwehr nach Auslösung eines Alarms mit seinem privaten Pkw zum Feuerwehrhaus fährt, stehen grundsätzlich die Sonderrechte des § 35 Abs. 1 StVO zu. Diese dürfen aber mangels ausreichender Anzeigemöglichkeit ihres Gebrauchs nur im Ausnahmefall nach einer auf den Einzelfall bezogenen Abwägung nach Notstandsgesichtspunkten (vgl. Härtung NJW 1956, 1625) unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden, wenn dies zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist (§ 35 Abs. 1, 8 StVO). Mit einem privaten Pkw, der keine Signaleinrichtungen wie ein Feuerwehrfahrzeug aufweist, sind daher, soweit es um die Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit (§ 3 StVO) geht, allenfalls mäßige Geschwindigkeitsüberschreitungen ohne Gefährdung oder gar Schädigung anderer Verkehrsteilnehmer statthaft, was vorliegend noch der Fall ist.
a) Der Wortlaut des § 35 Abs. 1 StVO bezeichnet mit dem Tatbestandsmerkmal "die Feuerwehr" lediglich die Institution und besagt nichts darüber, welche Fahrzeugarten dieser Einrichtung hierunter fallen; er schließt private Fahrzeuge aus dem Anwendungsbereich jedenfalls nicht aus.
Aus dem Standort der Norm am Ende des ersten Abschnitts der StVO ("Allgemeine Verkehrsregeln") und angesichts dessen, dass diese Sonderregelung von den Vorschriften der StVO vollständig befreit, kann geschlossen werden, dass es sich um eine eng auszulegende Sondervorschrift handelt, wovon auch die Staatsanwaltschaft zu Recht ausgeht. Dies besagt allerdings noch nichts darüber, ob diese enge Auslegung bei dem Begriff "Feuerwehr" anzusetzen hat oder ob erhöhte Anforderungen an das Merkmal "dringend geboten" und/oder an die Voraussetzungen des § 35 Abs. 8 StVO zu stellen sind.
Aus der Entstehungsgeschichte der Norm, die ursprünglich als § 48 Abs. 1 in die StVO eingestellt war, lässt sich nichts Entscheidendes für die Lösung der vorliegenden Frage herleiten.
Hingegen stellen die zu der StVO erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschriften eine wertvolle Auslegungshilfe bezüglich der Vorstellungen des Verordnungsgebers dar (Janiszewski/Jagow/Burmann, StVO, 16. Aufl., Einführung Rdnr. 232). In der VwV-StVO zu § 35 wird empfohlen, bei Inanspruchnahme von Sonderrechten dies, wenn möglich und zulässig, durch blaues Blinklicht mit Einsatzhorn anzuzeigen. Aus dem einschränkenden Zusatz "wenn möglich" kann geschlossen werden, dass nach dem Willen des Verordnungsgebers Fahrzeuge, die weder über blaues Blinklicht noch über Einsatzhorn verfügen, Sonderrechte in Anspruch nehmen können.
Hierfür spricht auch die Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums Baden-Württemberg zu § 35 StVO (GABl. 1981, 747). Danach stehen dem Angehörigen einer Freiwilligen Feuerwehr, der nach Auslösung eines Alarms mit einem privaten Pkw zum Feuerwehrhaus oder zum Alarmplatz fährt, die Sonderrechte nach § 35 Abs. 1 StVO zu. Allerdings trete die Pflicht, sich bei Alarm unverzüglich beim Alarmplatz einzufinden, grundsätzlich hinter die Pflicht zur Beachtung der geltenden Verkehrsregeln zurück. Da die Privatfahrzeuge der Feuerwehrangehörigen keine Möglichkeit hätten, durch Blaulicht und Einsatzhorn den übrigen Verkehrsteilnehmern anzuzeigen, dass Sonderrechte in Anspruch genommen würden, verbiete es sich grundsätzlich - auch im Interesse der betroffenen Feuerwehrangehörigen - Sonderrechte bei Fahrten mit dem privaten Pkw in Anspruch zu nehmen.
Der Bund-Länder-Fachausschuss StVO hat bereits 1992 anlässlich einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt zur Frage der Inanspruchnahme von Sonderrechten nach § 35 Abs. 1 StVO durch Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr auf der Fahrt von der Wohnung zum Feuerwehrstützpunkt folgende Auffassung vertreten:
"Nach § 35 Abs. 1 StVO kommt es darauf an, ob die Überschreitung der Vorschriften der StVO zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist. Dies kann auch der Fall sein, wenn der Stützpunkt von der Wohnung schnell erreicht werden muss. Dabei ist aber § 35 Abs. 8 besonders zu beachten, wenn mit Privatfahrzeugen gefahren wird, die für die übrigen Verkehrsteilnehmer nicht als Fahrzeuge mit Sonderrechten erkennbar sind."
Ausweislich einer neueren Stellungnahme des Bundesverkehrsministers (Deutsche Feuerwehrzeitung 2001, 572) wird diese Auffassung heute noch vertreten.
Schließlich spricht auch eine zweckgerichtete Auslegung der Vorschrift dafür, dass Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr bei einer Fahrt im Alarmfall zum Feuerwehr- oder Einsatzort grundsätzlich dem § 35 Abs. 1 StVO unterfallen, diese Sonderrechte jedoch nur in zumindest notstandsähnlichen Ausnahmefällen in Anspruch nehmen dürfen. Denn damit wird einerseits der in diesem Fall vorliegenden Notstandshilfelage und andererseits der durch die StVO geschützten allgemeinen Verkehrssicherheit Genüge getan.
b) Der Auffassung des Senats entspricht die Entscheidung des 3. Senats für Bußgeldsachen des OLG Stuttgart vom 07.10.1991 (NJW 1992, 993). Danach kann ein Polizeibeamter, der mit seinem Privat-Pkw eine mit Haftbefehl gesuchte Person verfolgt, die Sonderrechte nach § 35 Abs. 1 StVO in Anspruch nehmen, wenn die sofortige Diensterfüllung wichtiger erscheint als die Beachtung der Verkehrsregeln. Dieser Fall ist mit dem vorliegenden insoweit vergleichbar, als die Erkennbarkeit der Inanspruchnahme dieser Sonderrechte für die übrigen Verkehrsteilnehmer nicht bzw. (durch den Dachaufsatz) nicht ausreichend gegeben ist.
Ferner hat das OLG Braunschweig (Beschluss vom 05. März 1990 - Ss (B) 14/90 -) in einem gleichgelagerten Fall einem Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr nach einem Einsatzbefehl auf der Fahrt zum Spritzenhaus zwar die Berufung auf das Sonderrecht des § 35 Abs. 1 StVO verwehrt, da der Betroffene kurz vor Erreichen seines Fahrziels nicht davon ausgehen konnte, dass die innerörtliche Geschwindigkeitsüberschreitung von 54 km/h dringend geboten gewesen sei. Die Entscheidung impliziert damit jedoch, dass, unter der Voraussetzung der dringenden Gebotenheit, einem Angehörigen der Freiwilligen Feuerwehr auf der Fahrt zum Feuerwehrhaus die Berufung auf diese Vorschrift grundsätzlich möglich ist.
Auch K (NZV 1994, 58 und DAR 1995, 126) vertritt die Auffassung, dass ein Feuerwehrmann nach Alarmierung auf dem Weg zum Spritzenhaus als Fußgänger, Radfahrer oder Pkw-Fahrer die Sonderrechte nach § 35 Abs. 1 StVO in Anspruch nehmen kann. Zu Recht weist er darauf hin, dass einem Feuerwehrmann damit auch die Möglichkeit gegeben sei, mit seinem Privat-Pkw eine nach Zeichen 250 der StVO (Verbot für Fahrzeuge aller Art) gesperrte Waldstraße befahren zu können, um dadurch die Zufahrt zum Spritzenhaus abzukürzen.
Demgegenüber vertritt das OLG Frankfurt in seinen Beschlüssen vom 02. August 1984 - 2 Ws (B) 133/84 OWiG - (Cramer/Berz/Gontard, Straßenverkehr-Entscheidungen Nr. 6 zu § 35 StVO) und vom 25. September 1991 - 2 Ws (B) 421/91 OWiG - die Auffassung, dass ein Feuerwehrmann auf der Fahrt mit seinem privaten Pkw zum Feuerwehrstützpunkt § 35 Abs. 1 StVO nicht in Anspruch nehmen könne, da diese Fahrt noch keine hoheitliche Aufgabe erfülle, sondern allenfalls der Vorbereitung einer späteren hoheitlichen Aufgabe (Einsatz) diene.
Dem kann allerdings nicht zugestimmt werden, da auch die Vorbereitungshandlung, die mit der Einsatztätigkeit in unmittelbarem Zusammenhang steht, bereits als hoheitliche Aufgabe anzusehen ist (Schmidt/Bück BWVPr 1985, 221, 223), wozu auch das Zurückliegen des Weges zwischen der Wohnung und dem Feuerwehrort oder der Einsatzstelle gehört (Surwald, Feuerwehrgesetz für Baden-Württemberg, 6. Aufl., § 16 Rdnr. 6).
2. Obwohl damit von der Rechtsansicht des OLG Frankfurt abgewichen wird, besteht, unabhängig von der Frage, ob die zu beurteilenden Sachverhalte gleichgelagert sind und ob die Frage dort entscheidungserheblich war, keine Vorlagepflicht nach § 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG. Die Frage, ob dem Betroffenen die Sonderrechte des § 35 Abs. 1 StVO zustehen, ist vorliegend nicht entscheidungserheblich, da er unabhängig davon freizusprechen ist.
Der Betroffene handelte nämlich in einer Putativnotstandshilfesituation entsprechend §§ 11 Abs. 1, 16 OWiG, wobei sein Irrtum bezüglich des Fehlalarms nicht auf Fahrlässigkeit beruhte. Aufgrund der durch Funk erfolgten Alarmierung wegen einer Brandmeldung in einem Verbrauchergroßmarkt ging er von einer gegenwärtigen, nicht anders als durch den Feuerwehreinsatz abwendbaren Gefahr für zumindest das Eigentum eines anderen aus. Dieses Rechtsgut, das er schützen wollte, überwog in der konkreten Situation auch das Rechtsgut der Verkehrssicherheit wesentlich, da bezüglich Letzterem aufgrund der mäßigen Geschwindigkeitsüberschreitung und der Tatsache, dass zu der relativ späten Stunde auf der ausgebauten Ausfallstraße keine anderen Verkehrsteilnehmer beeinträchtigt wurden, keine Gefährdung vorlag und der Grad der drohenden Gefahr hierbei zu berücksichtigen ist (Göhler, OWiG 13. Aufl., § 16 Rdnr. 8).
Er handelte auch mit Rettungswillen und durfte darauf vertrauen, dass er wegen eines tatsächlichen Alarmfalls gerufen wurde, da keine Anhaltspunkte daran zu zweifeln vorlagen und die besondere Tatsituation, nämlich der Zwang zu rascher Entscheidung, mitzuberücksichtigen ist (Rengier in Karlsruher Kommentar-OWiG, 2. Aufl., § 16 Rdnr. 71).
Außerdem befand sich der Betroffene in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum nach § 11 Abs. 2 OWiG, da er durch die Schulungen der Feuerwehr und aufgrund schriftlicher Unterlagen der Polizei der Auffassung war, dass er bei seiner Fahrt Sonderrechte nach § 35 Abs. 1 StVO in Anspruch nehmen könne, wenn er niemanden gefährde, was nach den Feststellungen der Fall war. Es fehlte ihm damit die Einsicht, etwas Unerlaubtes zu tun. Dafür spricht auch, dass er einen Dachaufsatz mit der Aufschrift "Feuerwehr im Einsatz" auf seinem Pkw angebracht hatte. Weil seine Ansicht auf der Auskunft kompetenter Stellen beruhte, war sein Irrtum nicht vermeidbar.
III.
Da der Anwendungsbereich, in dem Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr bei einer alarmbedingten Fahrt im privaten Pkw zum Feuerwehrhaus oder zur Einsatzstelle Sonderrechte grundsätzlich in Anspruch nehmen können, äußerst begrenzt ist, muss es dem Verordnungsgeber vorbehalten bleiben, ob er zur besseren Erkennbarkeit und damit eventuell erweitert und gefahrloser möglichen Ausübung der Sonderrechte dem Vorschlag, ein aufsetzbares gelbes Warnblinklicht im Sinne des § 38 Abs. 3 StVO auch für derartige Fälle einzuführen, nähertritt (vgl. Schmidt/Bück a.a.O., 225).
Ende der Entscheidung
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